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ENESCU

„Stans besondere Leistung ist sein Engagement für seinen großen Landsmann George Enescu. Hierzulande viel zu wenig aufgeführt, hat dies Stan dazu veranlasst, als sein interpretatorischer Prophet zu wirken.“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 2010 – Claus Regnault

Essay von Eduard Stan (2005)

George Enescu – Ein musikalisches Universal-Genie

George Enescu (frz. Georges Enesco), laut Pablo Casals „das größte musikalische Phänomen seit Mozart“, ist einer der Giganten der Musik des 20. Jahrhunderts. Geboren am 19. August 1881 in Liveni / Rumänien – in der Moldau, im Nordosten des Landes – starb er am 4. Mai 1955 in einem Pariser Hotelzimmer. Dieser geniale Komponist, Geiger, Dirigent, Pianist und Pädagoge in Personalunion – wobei der Begriff „Genie“ auf all die genannten Disziplinen zutrifft – gehört mit seiner Musik gleichwohl zu den am meisten vernachlässigten Persönlichkeiten im heutigen Konzertbetrieb.

 

Der Geiger Enescu

In Europa erlangte Enescu vor allem als Geiger frühen Ruhm. In einer Epoche, in der Bach-Interpretationen von romantischen Aufführungstraditionen geprägt waren, wurde sein Bachspiel legendär und von vielen als das Klarste und Visionärste seiner Zeit beschrieben. So berichtet Ida Haendel, die von Carl Flesch zu Enescu kam:

Geiger Enescu
Enescu spielt Chaussons Poème
Enescu eliminierte den ganzen überflüssigen Zierrat in meinem Spiel und ließ mich mit der Bach’schen Anatomie allein ... Für Enescu war es das größte Kompliment, als eine Dame ihn nach einem Bach-Stück fragte: `Maître, haben sie soeben etwas gesagt?´ Sie dachte, er habe zu ihr gesprochen. Er ließ die Musik mit solcher Eindringlichkeit sprechen, dass Sie jeden Satz, jede Phrase als Sinn-Zusammenhang verstehen.“

Auch Norbert Brainin – Geiger des Amadeus-Quartetts – bezeugt, welchen Eindruck Enescu nach einigen Solo-Bach-Recitals 1950 im englischen Bryanston hinterließ:

Er verwandelte jeden und alles – er verklärte uns vollständig. Nachdem wir Enescu gehört hatten, waren wir niemals wieder dieselben.“ Yehudi Menuhin, von Enescu „durch Beispiel, nicht durch Worte“ gelehrt, schwärmt von seinem „Vibrato, dessen Ausdruck unbegrenzt variabel war“ und von den „herrlichsten Trillern, die ich von einem Geiger je gehört hatte.“

Dass Enescu zu den herausragenden Geigern des letzten Jahrhunderts zählt, wird nicht zuletzt in der Bewunderung des Dirigenten und Komponisten Manuel Rosenthal deutlich: „Sein Klang war einmalig. Hätte man Enescu im Vergleich mit 10 anderen Virtuosen hinter einem Vorhang spielen lassen, hätte man mit Sicherheit sagen können: `Da – das ist Enescu!´“

 

Der Dirigent Enescu

Als Dirigent erfuhr Enescu insbesondere in Amerika größte Wertschätzung. In New York wurde ihm die Toscanini-Nachfolge angetragen, was er aber ablehnte, um sein Komponieren zeitlich nicht weiter zu beschränken.

Welch inspirierende Kraft von ihm als Dirigent ausging berichtet Noel Malcolm, der in Gesprächen mit englischen Orchestermusikern der 40-er und 50-er Jahre“... nur den Namen Enescu zu erwähnen brauchte, um bei ihnen einen veränderten Gesichtsausdruck auszulösen. Die Hingabe an die Musik, welche er aufführte, war so verschieden von jener eines jeglichen anderen Dirigenten unter dem sie musizierten, dass ihr Spiel in einer Weise inspiriert wurde, die zu vergessen ihnen unmöglich war.“

Enescus Sinn für Klangfarben und Klangbalance, seine Raffinesse in der Abstufung verschiedener Instrumentengruppen, seine schier unerschöpflichen dynamischen Fähigkeiten, ferner Werkkonzeption, phänomenales Gedächtnis wie die profunde Kenntnis der ganzen Palette abendländischer Musikkultur (sein Repertoire als Dirigent war noch um ein Vielfaches größer als sein Geigenrepertoire!), und nicht zuletzt die Kraft seiner Autorität fernab jeglicher Tyrannei haben seinen herausragenden Ruf als Dirigent begründet. Menuhin dazu:

Dirigent EnescuStand Enescu am Dirigierpult, vermochte er dem Orchester solch wundervolle Klänge zu entlocken! Klänge, von denen andere – manchmal viel autoritärere und Respekt einflößendere – Dirigenten nicht einmal zu träumen gewagt hätten!“

Vor seiner ersten Probe pflegte Enescu das gesamte Werk vom Klavier aus wiederzugeben, um das Orchester mit seiner Interpretation vertraut zu machen. Er kannte sämtliche Partituren, die er dirigierte, auswendig und konnte diese vom Klavier aus mit allen Details frei vortragen.

 

Der Pianist Enescu

Kein geringerer als Enescus Studienfreund Alfred Cortot erinnerte sich in späten Jahren daran, wie sehr ihn Enescus Darbietung von Beethovens Waldstein-Sonate beeindruckt hatte. Zwischen 1897 und 1952 ist Enescu in weit über 100 Konzerten als Pianist aufgetreten und hat dabei Musikern wie Pablo Casals, Jacques Thibaud, David Oistrach, Yehudi Menuhin, Carl Flesch, Yvonne Astruc, u.v.a. zur Seite gestanden. Ein Konzertplakat bezeugt z.B., dass der Pianist Enescu im Juni 1938 in Paris (Salle Pleyel) mit Thibaud Beethovens Violinsonaten c-moll (op. 30/2), G-Dur (op. 30/3) und die Kreutzer-Sonate spielte...

Ein Genie wie Enescu konnte an einem Abend als Geiger mit dem russischen Pianisten Lev Oborin Violinsonaten von Mozart und Franck interpretieren, und im Anschluss vom Klavier gemeinsam mit David Oistrach Griegs Violinsonate c-moll musizieren! Unvergessen ist seine Zusammenarbeit mit dem Wiener Rosé-Quartett oder dem Moskauer Vuillaume Quartett (mit Vuillaume z.B. in Schumanns Klavierquintett, Ende 1945 in Bukarest).

So ist es wenig verwunderlich, dass Enescu die Erstaufführungen einiger seiner Klavierwerke selbst vornahm. Der rumänischen Rundfunk und das Label Electrecord verwahrt Tondokumente mit Enescu als Pianist, in denen er sowohl als Solist am Klavier wie auch als Begleiter einiger seiner Kammermusikwerke zu hören ist.

 

Der Komponist Enescu:
Plädoyer für ein bedeutendes Vermächtnis

Sketch Enescu
Zeichner Milein Cosman sieht Enescu das
BBC-Orchester dirigieren
Enescus Lebensziel bestand seit frühester Kindheit darin, Komponist zu werden. Kaum hatte der Fünfjährige mit dem Notenlesen und Klavierspiel begonnen, begann er schon zu komponieren. Er fühlte zeitlebens eine tiefe innere Berufung für diese Aufgabe, getrieben von humanistischen Idealen, denn „der Zweck der Kunst ist, die Menschen auf dem Weg zum Besseren voran zu bringen“ – so Enescu. Sein Sendungsbewusstsein hatte dabei auch patriotisch-mythische Züge:

Ich bin mit der Erde verwurzelt, auf einem Boden voller Sagen und Legenden geboren. Mein ganzes Leben verlief unter dem Einfluß der Götter meiner Kindheit...“

Alle anderen musikalischen Tätigkeiten plante er nach und nach zugunsten des Komponierens in den Hintergrund zu rücken. Dass dies nicht gelingen sollte, dafür sorgte u.a. seine Muse und spätere Frau, Prinzessin Marie Cantacuzino – genannt Maruca – deren aufwändigen Lebensstil er durch seine Konzerte finanzierte...

Der Kompositionsstil Enescus passt in keine Schablone irgendeiner europäischen Schule oder Strömung. Ausgangspunkt ist zwar die Inspiration durch die Volksmusik Rumäniens, ihre Hirten-„Doine (Singular: Doina) und ihre ziehenden Musikanten und Zigeuner, die seine frühe Kindheit geprägt haben – eine Musik, die durch den rumänischen Begriff „dor“ charakterisiert wird, den die deutschen Bezeichnungen „nostalgisch, kummervoll oder träumerisch“ nur teilweise erfassen. Diese Tatsache ist jedoch nur ein Drittel der Wahrheit (wie nachfolgend erläutert wird), obwohl ihm dadurch fast zwangsläufig das Etikett „Nationalkomponist Rumäniens“ angeheftet wurde. Ceausescus kulturpolitischer Chauvinismus hat Enescu zu einem nationalistisch- folkloristischen Komponisten degradiert – eine plakative Rolle, die Enescus Ansehen als Komponist eher geschadet hat.

Selbst in Musikerkreisen gibt es leider genügend Nichtinformierte, die Enescu für eine Balkan-Größe von regionaler Bedeutung halten... Dass Enescu im Westen hauptsächlich durch die beiden frühen, zwar wunderschön eingängigen, stilistisch aber wenig repräsentativen Rumänischen Rhapsodien bekannt ist, tut ein Übriges. Dazu bemerkt Noel Malcolm:

Enescu allein anhand dieser Werke zu beurteilen ist, als wollte man seine Meinung über Ravel ausschließlich auf das Hören des Boleros gründen.“

Zu einer reifen, eigenständigen Komponistenpersönlichkeit wurde Enescu erst durch die nächsten beiden Stationen seines Lebens, Wien und Paris. Dabei waren vor allem die Wiener Jahre 1888 bis 1894 für die weitere Entwicklung des „kleinen rumänischen Mozarts“ (so eine Wiener Zeitung) ausschlaggebend.

Bereits als Neunjähriger genoss er Robert Fuchs’ Kompositions- und Harmonielehre-Unterricht am Wiener Konservatorium, und insbesondere war die direkte Begegnung mit Brahms in Wien 1893 für den jungen Enescu prägend. In dessen Anwesenheit hat er als Geiger im Orchester des Wiener Konservatoriums Brahms’ 1. Sinfonie und d-moll-Klavierkonzert aufgeführt, war bei der ersten privaten Aufführung des Klarinettenquintetts anwesend und konnte sich noch in späten Jahren lebhaft an Brahms’ Klavierspiel erinnern.

Der Komponist Enescu hat mit seiner Vorliebe für die klassischen Formen Sinfonie und Sonate in Brahms’ großen sinfonischen und kammermusikalischen Werken zeitlebens einen Orientierungspunkt gefunden. Diese Formen belebte Enescu durch eine besondere und für ihn typische Art des zyklischen Gedankens: In Finalsätzen zitiert er nicht nur Themen früherer Sätze, sondern häuft diese gleichsam übereinander auf, blendet sie simultan ins musikalische Geschehen ein, so dass versteckte Verwandtschaften offenkundig werden.

New York 1948
Nach einem Konzert in New York, 1948
In Paris, wo er nach Massenet in Fauré 1896 einen inspirierenden Kompositionslehrer fand, lernte er vor allem die Kunst raffinierter Orchestrierung und klangfarblicher Elastizität. Beim „Fugen-Papst“ André Gédalge verfeinerte er das kontrapunktische Handwerkszeug und entwickelte seine so subtil verästelte Heterophonie weiter. Trotz langer Jahre in Paris verfiel Enescu nicht dem Zeitgeist des Impressionismus und blieb sich selbst treu. Der Schlüssel dafür liegt in Wien...

Enescu ist eine singuläre Erscheinung im europäischen Musikkosmos, die in einzigartiger Weise deutsche und französische Einflüsse mit dem rumänischen Idiom in sich vereinigt. Seine Originalität erreicht er durch die Synthese von vorklassischen Einflüssen (Vorliebe für Suiten- und Tanzformen), klassizistischer Architektur (Beethovens Schatten erreicht auch Enescu!), romantischer Harmonik mit starker modaler Einfärbung (letztere ist eine der Referenzen an die rumänischen Wurzeln), impressionistisch angehauchtem Klangsinn und von rumänischer Volksmusik durchdrungener Rhythmik und Melodik.

Enescu war ein Neuerer subtiler Art, weit entfernt von einem Haschen nach Innovation als Selbstzweck, ohne jegliches Interesse an Zwölfton- oder seriellen Techniken und immer auf der Suche nach künstlerischer Wahrhaftigkeit. Warum zum Spätstil hin seine Musik zunehmend spontaner klingt, im Charakter eines permanenten „Quasi Improvisando“, so als wäre nichts vorgegeben, als entstünde vollendete Form aus einer Inspiriertheit des Augenblicks heraus, obwohl seine Notation mit den Jahren immer minutiöser wird – dies bleibt ein Geheimnis Enescus.

In einer Zeit, in der so viele vernachlässigte Komponisten bereits ihre Renaissance erfahren haben, gebührt Enescu mehr als nur eine europäische Rehabilitation. Dieses Genie, das in wunderbarer Weise das musikalische Europa Ost und West in sich vereinigt, hat (s)einen Platz auf der „UNESCO-Liste des Weltkulturerbes“ verdient. Möge die Musik dieses Titanen des 20. Jahrhunderts insbesondere nach seinen Jubiläumsjahren 2005 und 2006 die Herzen vieler Musikliebhaber in Deutschland und weltweit erreichen!

© Eduard Stan