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ENESCU

„Stans besondere Leistung ist sein Engagement für seinen großen Landsmann George Enescu. Hierzulande viel zu wenig aufgeführt, hat dies Stan dazu veranlasst, als sein interpretatorischer Prophet zu wirken.“

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 2010 – Claus Regnault

Essay von Pascal Bentoiu (2005)

Der Komponist George Enescu

George Enescu war seit frühester Kindheit ein berühmter Musiker und in Europa und Nordamerika sowohl für seine Darbietungen als Geigenvirtuose als auch für seine bekannten Rumänischen Rhapsodien hoch geschätzt. Dennoch verkörpert dieser Musiker den typischen Fall eines Komponisten, dessen Bedeutung schon zu Lebzeiten nicht verstanden wurde.

Enescus Neubewertung hat gerade erst begonnen und begegnet daher mancher Schwierigkeit. Denn unverkennbar haben gerade Enescus auffällige musikalische Qualitäten, die ihn zu einem der gefeiertsten Geiger seiner Epoche gemacht haben, in der uns Namen wie Kreisler, Thibaud und Heifetz begegnen, und die ihm – im Gegensatz zu den zitierten Virtuosen – zugleich ermöglichten, auch ein großer Dirigent und faszinierender Lehrer zu sein, die Zeitgenossen dieses Künstlers daran gehindert, den Wert seiner Kompositionen richtig zu ermessen.

Young Enescu
Enescu als Zwanzigjähriger
Manch einer wird davon ausgegangen sein, dass es sich bei Enescus Schaffen um den verständlichen, wenn auch unmaßgeblichen Wunsch eines großen Virtuosen gehandelt hat, der sich auch einmal auf schöpferischem Gebiet versuchen wollte (wie es beispielsweise der Fall war bei Fritz Kreisler, der nicht nur einige bezaubernde kleine Werke, sondern auch ein interessantes Streichquartett geschrieben hat). Der rumänische Künstler hat jedoch Sinfonien, Suiten, eine Oper, Sonaten, Quartette und verschiedene große Orchester- und Kammermusikwerke hinterlassen. Das kollektive Gedächtnis hat aus alledem zunächst einmal die beiden Rumänischen Rhapsodien, die er 20jährig komponiert hatte, und – mit weitaus geringerem Echo – eine Sonate für Klavier und Geige „im volkstümlichen rumänischen Charakter“ (op. 25) ausgewählt. Damit wurde dem Komponisten Enescu also eine exotische, folkloristische Qualität zuerkannt und kurzerhand geschlussfolgert, er müsse ein pittoresker Vertreter einer „nationalen Schule“ sein. Das allein ist jedoch unweigerlich zu wenig und grundsätzlich falsch.

Die Gründe für ein derartiges Missverständnis (oder besser: eines unzureichenden Verständnisses) sind vielfältig. Dazu wird sowohl die sprichwörtliche Bescheidenheit des Komponisten beigetragen haben, wie auch eine vielleicht ungenügende Unterstützung von Seiten der Verleger, die bei intensiveren Bemühungen zu vermehrten Aufführungen und Einspielungen der Werke und zu Übersetzungen der Studien und Monographien über Enescu in die großen Weltsprachen geführt haben könnte. Persönlich denke ich, dass auch die Zugehörigkeit des Komponisten zu einer eher kleinen Nation berücksichtigt werden muss, die eine wenngleich schöne, so doch kaum verbreitete Sprache spricht. Dies führte sicher dazu, dass der bedeutende musikwissenschaftliche Beitrag, zu dem der Komponist in der letzten Jahrhunderthälfte in seiner Heimat Anlass gab, in internationalen Kreisen nahezu unbekannt blieb.

Tescani Mansion
Im Garten seines Anwesens in Tescani
All dies wird sicherlich eine Rolle gespielt haben. Doch möchte ich nun zur Hauptursache kommen, die für den beschriebenen Zustand verantwortlich zu machen ist, und die zu den grundsätzlichen Wesenszügen von Enescus Werk gehört. Das Thema ist heikel und ich gebe mich nicht der Illusion hin, es hier auf geringen Raum abschließend klären zu können. Ich versuche also eine zusammenfassende Skizzierung des Problems in möglichst direkten Worten.

Man kann das Gesamtwerk Enescus grosso modo in zwei große Perioden einteilen: jene des Abwägens und Sammelns und jene der Synthese. Der Komponist beginnt seine Arbeiten mit zwei bemerkenswert ausgereiften Kammermusikwerken, der zweiten Sonate für Klavier und Violine und dem Oktett für Streicher. Enescu ist noch keine 18 Jahre alt, als er die Sonate beendet, und hat bei der Fertigstellung des Oktetts das 19. Lebensjahr noch nicht erreicht. Vor allem letzteres ist ein kontrapunktisches Meisterwerk von ganz außergewöhnlicher Konstruktion.

Nachdem er damit die Höhe seines Schaffens erreicht hat, ein Niveau von höchster Konzentration und höchstem Wert, beginnt er eine Reihe sehr interessanter Versuche, wobei jede dieser Richtung von einem oder maximal zwei Werken repräsentiert wird. Dabei hätte jeder dieser stilistischen Blickwinkel eine „Periode“ im Sinne Strawinskys hervorrufen können. Wir begegnen zunächst einem geradezu überromantischen Werk (der Symphonie concertante für Cello und Orchester op.8), einer Partitur mit neoklassizistischen Zügen (der 1. Orchestersuite op. 9), einem Klavierzyklus, den man als Neoklassizismus impressionistischer Prägung charakterisieren könnte (der 2. Klaviersuite op. 10), dann den beiden berühmten Rumänischen Rhapsodien op. 11, die das Pittoreske der osteuropäischen Nationalschulen anbieten, der 1. Sinfonie op. 13, die sich deutlich neoromantisch gibt, dem Dixtuor für Bläser op. 14, das die Einheit eines alles durchdringenden Klassizismus mit den Ausläufen einer imaginären Folklore skizziert, und schließlich der 2. Orchestersuite op. 20, einem glänzenden Beispiel eines dem modernen Musikverständnis angepassten Neobarocks. Dabei muss betont werden, dass in jedem der erwähnten Werke die unverwechselbare Persönlichkeit und Sensibilität Enescus erkennbar bleibt.

Oedipe
Plakat zur Uraufführung von
Oedipe in Paris, 1936
Die beschriebenen Versuche und angedeuteten Gesichtspunkte bereiten den Boden für eine umfassende Synthese. All diese „Wurzeln“, die sich der so begnadet begabte Künstler zu Eigen gemacht hat (ein Künstler der sein Selbstverständnis aus so vielen unterschiedlichen und weit entfernten Quellen bezieht), vereinigen sich, einer Eiche ähnlich, in einem kräftigen „Stamm“. Dieser Moment wird durch die 2. und vor allem 3. Sinfonie (1918) sowie das Streichquartett in Es, op. 22 Nr. 1 markiert. Mit diesen Werken ist die Synthese vollzogen, und mit ihr der Ursprung einer reichen „Astkrone“ in Enescus Schaffen, die nunmehr keiner äußeren Stileingebung mehr Tribut zollt. Zu erwähnen sind die Oper Oedipe, die 3. Orchestersuite ("Villageoise", "Dörfliche"), die symphonische Dichtung Vox Maris und ein ausgedehntes kammermusikalisches Werk – verschiedene Sonaten, Quartette mit und ohne Klavier, ein monumentales Klavierquintett und schließlich die Kammersymphonie op. 33. Zudem sei an einige vom Autor nicht beendete Werke erinnert, die jedoch sein Porträt als Komponist abrunden: die 4. und die 5. Symphonie, die Tondichtung Isis, das Caprice Roumain für Violine und Orchester, die Tondichtung Nuages d'automne sur les fôrets.

Bis hierhin wäre die Sachlage an und für sich nicht ungewöhnlich. „Wir haben hier also“, so könnte ein aufmerksamer Beobachter feststellen, „den Fall eines Komponisten mit einem nicht sehr großen, sicherlich auch nicht kleinen Werk (in der Summe in etwa mit dem seines Kollegen und Freundes Ravel vergleichbar), mit einer abwechselnden und interessanten Bandbreite, das seinen Weg zum Verständnis und Gefühl der Zuhörer eigentlich von selbst finden müsste“.

Doch bedauerlicherweise verhält sich die Sache anders. Die meisten der erwähnten Werke tauchen im Konzertleben, in den Neuerscheinungen auf Tonträger, in Radio- und Fernsehsendungen nur sehr sporadisch auf. Womit ich natürlich nicht das Heimatland des Komponisten meine (wo Enescus Präsenz im Konzertleben und in den Medien durchaus der Norm entspricht), sondern das internationale Kulturleben, in dem Enescu bei weitem nicht so vertreten ist, wie dies dem Wert seines Schaffens gerecht würde.

Was ist nun die Erklärung dafür? Welches ist die tatsächliche Erklärung, und nicht jene, die durch mehr oder weniger zufällige Elemente bedingt ist? Es gibt nur eine: die bedeutenden Werke Enescus verfügen alle über eine außergewöhnliche musikalische Informationsdichte.

Charakters
Enescu als Karikaturist: 2. v. u. l. Richard Strauss
Sie sind schwierig, gewissermaßen zu schwierig für die Vorgaben musikalischer Darbietung in der heutigen Zeit. Um wirklich erschlossen werden zu können, verlangen sie danach, wiederholt gehört zu werden – was nur selten möglich ist. Sie verlangen den Interpreten eine außergewöhnlich große Investition an Zeit, Arbeit und Mühe ab – und die meisten Interpreten unserer Tage sind sehr in Eile. Kurz gesagt: Enescus Musik fordert von Zuhörern wie Musikern gleichermaßen eine liebevolle Annäherung, echte Hingabe, ja fast ein Glaubensbekenntnis. Hat man jedoch einmal die harte Schale durchdrungen, stellt sich der Kern der Frucht als unvergleichlich süß heraus. Ein Aroma, das man so schnell nicht mehr vergisst.

Unsere heutige Epoche bereitet dem Komponisten Enescu allmählich den Weg zu seinem rechtmäßigen Platz als einer der ganz Großen seiner Zeit. 50 Jahre nach dem Tod des großen Musikers gilt es nun nicht mehr, sein Potential für Propagandazwecke auszuloten, sondern kommt es vielmehr darauf an, wie viele begeisterte Zuhörer sich dem rumänischen Komponisten zuwenden. Und ihre Anzahl nimmt stetig zu.

© Pascal Bentoiu

Pascal Bentoiu (geb. 1927) ist Komponist und Musikwissenschaftler in Bukarest und einer der besten Enescu-Kenner. Er veröffentlichte zahlreiche Studien über Enescu und publizierte mit Capodopere enesciene (Meisterwerke Enescus) 1984 eines der bis heute maßgeblichen Werke über den Komponisten. 1990 war er der erste Präsident des rumänischen Komponistenverbandes nach dem Sturz des Kommunismus. Sein Werk umfasst Opern, sinfonische Musik und Kammermusik. Er ist Autor des Artikels über Enescu in der zweiten Ausgabe des Lexikons „Musik in Geschichte und Gegenwart“.